Annalena Baerbock in Kassel: Wahlkampf-Show in der Stadthalle

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Viele Grünen-Sympathisanten, aber auch einige wenige Kritiker haben sich am Donnerstag, 16. Januar 2025, ins Kasseler Kongress-Palais begeben, um den Wahlkampfauftritt von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und dem Kasseler Direktkandidaten Boris Mijatovic zu erleben.

Kassel – Für 18 Uhr war der Beginn der Veranstaltung im Großen Saal der Kasseler Stadthalle angekündigt. Bereits um 17 Uhr war Einlass. Gruppen aus dem Bereich der Friedensbewegung und Gaza-Aktivisten machten vor der Stadthalle auf ihre Themen aufmerksam. Die Aktivisten spielten Musik aus dem Lautsprecher und kritisierten verstärkt mit einem Mikrofon die Außen- und Rüstungspolitik der grünen Partei. „Wir wollen nicht zur Zielscheibe werden“, prangte auf einem der Banner, die die Aktivisten in den Händen hielten. Circa 50 nahmen an der Versammlung teil.

An die Besucher der Grünen-Wahlkampfveranstaltung, die sich in zwei Schlangen vor dem Kongress-Palais anstellten, verteilten die Aktivisten Flyer und Bonbons. „Die Grünen haben sich zur Kriegstreiber-Partei gewandelt“, skandierte ein Demonstrant durchs Mikrofon. Er bezog sich dabei auf die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden. Auch die Waffenlieferungen an Israel wurden kritisiert.

In der Stadthalle ging alles geordnet zu. Am Einlass kontrollierten Protex-Mitarbeiter die Besucher. So waren unter anderem Rücksäcke größer als ein DIN-A4-Blatt verboten. Bis 18 Uhr füllte sich der Große Saal im Kongress-Palais fast vollständig. 1300 Menschen passen laut Grünen-Angaben hinein. Annalena Baerbock war vor anderthalb Jahren bereits im Hallenbad Ost in Bettenhausen zu Gast gewesen. Dort ist nur Platz für 350 Menschen.

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Schätzungsweise 50 Demonstranten protestierten vor der Stadthalle gegen die Außen- und Sicherheitspolitik der Grünen. (Foto: Paul Bröker)

„Noch nie vor so vielen Leuten gesprochen“

Neben Baerbock und Mijatovic zeigte sich ein Großteil der grünen Politprominenz aus Nordhessen, darunter Kassels Oberbürgermeister Sven Schoeller und die beiden Landtagsabgeordneten Vanessa Gronemann und Sascha Meier. 

Auch an ein Awareness-Team hatten die Organisatoren rund um den Kasseler Grünen-Parteivorsitzenden Lucian Hanschke gedacht, an das sich Betroffene von Übergriffen hätten wenden können. In seinem Eingangsimpuls betonte Hanschke die Wichtigkeit der bevorstehenden Bundestagswahl am 23. Februar. „Das ist eine Richtungsentscheidung“, sagte er.

Dann trat Boris Mijatovic auf die Bühne, die von mehreren Videokameras für den Livestream eingefangen wurde. „Ich habe noch nie vor so vielen Leuten gesprochen. Geil, danke, dass ihr da seid“, sagte Mijatovic. Gerne hätte auch er auf seinem Wahlplakat mit „Zusammen“ geworben, aber diesen Slogan nutze nun Annalena Baerbock für sich. Auf Mijatovics Plakat steht „Engagement“.

Grüne laut Mijatovic keine Kriegstreiber

Der Kasseler Grünen-Direktkandidat kritisierte, dass die Kommunen die Probleme ausbaden, die auf der obersten Ebene verhandelt werden. Diese Erkenntnis habe er nicht zuletzt durch sein zehnjähriges Engagement in der Kasseler Lokalpolitik gewonnen. Er hob auch sein Engagement im sozialen Bereich hervor, so etwa beim Fußballverein Dynamo Windrad, mit dem er die Bolz-WM 2006 organisiert hatte. „So sieht unser Land aus, das lassen wir uns nicht wegnehmen“, sagte er in Reaktion auf die rassistischen Parolen von AfD-Politikern. Wie auf dem Fußballplatz gelte auch in der Politik: „Recht geht vor Gewalt.“ In dieser Hinsicht sei er seiner Parteikollegin Annalena Baerbock dankbar, da sie genau diese Sichtweise verkörpere.

Als Sprecher seiner Fraktion für Menschenrechte sei es ihm wichtig, aus dem Vorwurf herauszukommen, den Krieg anzutreiben. Kritiker werfen den Grünen vor, sich nicht gegen Waffenlieferungen an Israel zu stellen und im Ukraine-Krieg diplomatische Möglichkeiten nicht auszuschöpfen. Gelegenheit, auf diese Vorwürfe zu reagieren, wolle er jedoch Baerbock geben, die als Außenministerin schließlich viel näher am Thema sei, so Mijatovic.

Als letzten Punkt fügte er an: „Wir müssen versuchen, die jungen Leute vom rechtsextremen Rand wegzubekommen. Das sind wir ihnen schuldig.“ Über sein Profil bei Instagram nehme er daher Videobotschaften von jungen Leuten entgegen, die er beantworten möchte. 

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Fast vollständig gefüllter Großer Saal in der Kasseler Stadthalle. Das Bild ist knapp eine halbe Stunde vor Beginn der Veranstaltung entstanden. (Foto: Paul Bröker)

„Wie gut wir es hier eigentlich haben“

Dann betrat Annalena Baerbock unter frenetischem Applaus die Bühne. Für sie sei es etwas ganz Besonderes, vor so vielen Menschen in Kassel zu sprechen. „Das zeigt, wie viel Kraft von Kassel ausgeht“, so die Bundesaußenministerin.

Direkt vermittelte sie den Anwesenden, wie sie als Außenministerin auf die Lage in Deutschland blickt. Ihre Sicht sei ein Privileg, denn man sehe, „wie gut wir es hier eigentlich haben“. Dies habe sie erst am Vortag mitbekommen, nachdem sie von einer Reise aus dem Nahen Osten nach Deutschland zurückkehrte. Erst als sie mit ihrer Militärmaschine wieder in den europäischen Luftraum eintrat, habe der Pilot signalisiert: „Jetzt sind wir wieder sicher.“ Dieses Gefühl, dass Deutschland ein sicheres Land ist, sei jedoch vielen nicht mehr bewusst, monierte sie. Deutschland, das sei für sie Frieden und Freiheit.

Anschließend zog sie einen Vergleich mit dem Sport: Zwar gehe es darum, sich durchzusetzen, zu gewinnen, aber auch in der Politik seien dabei faire Methoden wichtig, so die frühere Trampolin-Turnerin. Es gehe nicht an, dass man sich darin überbiete, Deutschland schlechtzureden. Stattdessen sei es wichtig, zu fragen: „Wo können wir besser werden?“ Es dürfe dabei nicht in Vergessenheit geraten, dass Deutschland nach wie vor die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, hinter den USA und China, aber noch vor Japan.

Baerbock findet Rückflug-Tickets inakzeptabel

Baerbock möchte sich dafür einsetzen, dass der schulische Erfolg nicht von der Postleitzahl abhängt. Immer noch würden viel zu viele junge Menschen ganz ohne Schulabschluss dastehen. „Jedes Kind braucht gleiche Startchancen“, proklamierte sie lautstark und bekam dafür anerkennenden Applaus. 

In Bezug auf Zuwanderung sagte sie: „Die Kraft unseres Landes sind Vielfalt und Unterschiedlichkeit.“ Je mehr Menschen man einbeziehe, desto stärker sei die Gesellschaft. Inakzeptabel sei daher die AfD-Aktion, bei denen Menschen fingierte Rückflug-Tickets in ihren Briefkästen vorfanden. „Es gibt keine Bürger erster oder zweiter Klasse, vor dem Grundgesetz sind wir alle gleich“, stellte Baerbock klar.

Dann wurde es kurz hitzig. Ein junger Mann mit rotem Palästinenser-Tuch erhob sich aus dem Publikum und warf lautstark mit Vorwürfen in Richtung der Außenministerin. Er bezog sich dabei auf die humanitäre Situation in Gaza und die Waffenlieferungen der Bundesregierung an Israel. Baerbock ließ sich nicht irritieren und wies darauf hin, später noch auf Gaza, Nahost und Israel eingehen zu wollen, was sie auch tat.

Europa soll klimaneutraler Kontinent werden

Auch das Kernthema der Grünen, der Klimaschutz, kam zur Sprache. „Wir können nicht die Augen verschließen, als ginge uns das nichts an“, kritisierte Baerbock. Ein koordiniertes Vorgehen sei unabdingbar. „Wir können den Klimawandel weltweit nur gemeinsam angehen.“ Dabei betreibe Deutschland im ureigenen Interesse Klimaschutz. Denn das Ende von fossilen Importen bedeutet auch das Ende von Abhängigkeiten, wie die Außenministerin betonte. Somit sei Klimaschutz die beste Zukunftsinvestition. 

Wie in vielen Politikbereichen gelte auch beim Klimaschutz: „Wenn man nicht glaubt, dass es besser geht, sollte man seinen Job aufgeben“, so Baerbock. „Dann sollten es andere machen.“ Für Europa biete der Klimaschutz enorme Chancen: „Wir sollten Europa zum ersten klimaneutralen Kontinent machen“, forderte die Grünen-Politikerin daher. Anderen Erdregionen dürfe man Wohlstand nicht verwehren, ihnen jedoch einen Weg aufzeigen, damit sich die eigenen Fehler dort nicht wiederholen.

Gerade wollte Annalena Baerbock zum Thema Außenpolitik überleiten, da äußerten sich wieder der junge Mann mit dem Palästinenser-Tuch und nun auch seine weibliche Begleitung lautstark. Von den meisten Anwesenden ernteten sie nur Unverständnis, aber es kam zu keinen Handgreiflichkeiten. Dennoch eskortierten schließlich Sicherheitskräfte die Schreihälse aus dem Saal.

Vereinzelte Störrufe im Publikum

Baerbock erklärte daraufhin ihre Herangehensweise beim Krieg in Nahost. Sicherlich sei es eine Gratwanderung, jedoch dürfe man nicht nur auf das Leid einer Partei blicken. In Gesprächen mit israelischen Vertretern habe sie in Bezug auf die katastrophale humanitäre Lage in Gaza deutlich gemacht: „Das geht nicht.“ Humanitäre Hilfe zu leisten und zu ermöglichen, sei verpflichtend für alle Staaten. Sie würde eher zurücktreten, als die humanitäre Hilfe zu beenden, machte Baerbock deutlich.

Von der Besuchertribüne jammerte nun eine weitere mit Baerbock unzufriedene Frau und störte die Wahlkampf-Show. Baerbock blieb jedoch cool und reagierte souverän mit Einbezug der übrigen ihr wohlgesonnenen Besucher auf die Störung.

Baerbock erklärte, dass es keine Option ist, nur auf einer Seite des Konflikts zu stehen. Der 7. Oktober 2023 dürfe nicht in Vergessenheit geraten, mahnte sie. Ohne den Iron Dome wären auch in Israel womöglich Opfer zu beklagen. Israel habe das Recht, sich gegen die Angriffe der Hamas zu verteidigen. Gleichzeitig liefert Deutschland laut Baerbock keine Waffen an Israel, die gegen die Regeln des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden.

„Lage der Palästinenser lässt mich nicht kalt“

Die Lage der Palästinenser lasse sie jedoch nicht kalt, betonte die Außenministerin. Daher sei sie selbst nach Gaza gereist, um sich ein Bild zu machen. Die laute Frau von der Tribüne warf ihr nun vor, der Hamas in Reaktion auf ein Social-Media-Video eine Vergewaltigung unterstellt zu haben, die nicht einmal Israel als solche identifiziert habe. Die Frau war erbost und zog mit ihrem Geschrei die Aufmerksamkeit des ganzen Saals auf sich. Annalena Baerbock hörte sich die Vorwürfe an, fuhr dann aber in ihrem Vortrag fort. 

So wie Deutschland einst nach der Wiedervereinigung einen Vertrauensvorschuss von seinen Partnern erhalten habe, wolle man nun für andere da sein, so Baerbock. Ziel ihrer wertegeleiteten Außenpolitik sei immer, für Frieden und Freiheit einzustehen. Noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine vor drei Jahren habe sie ein Gespräch mit dem russischen Außenminister geführt, erinnerte sich Baerbock. Russland, das damals noch Teil des Europarats („Council of Europe“) war, hatte sich eigentlich dazu bekannt, dass es nie wieder Krieg in Europa geben darf. „Dieses Versprechen hat Putin gebrochen.“ Es gelte, weiterhin an der Seite der Opfer zu stehen, nicht auf der Seite des Aggressors. „Ein Beharren auf Neutralität unterstützt den Angreifer“, erklärte Baerbock. 

Die Europäische Union begreift Baerbock als „unsere Lebensversicherung“. Daher sei es wichtig, dass auch die Westbalkan-Staaten der EU beitreten und perspektivisch auch die Ukraine und Moldau.

Dann rutschte der Bundesaußenministerin das Eingeständnis heraus, dass sie wohl selbst nicht jedem Punkt des Grünen-Wahlprogramms zustimmen könne. Die Wählerinnen und Wähler, so Baerbock, könnten sich jedoch darauf verlassen, dass die grüne Partei Haltung zeigt, mit Weitsicht agiert und nicht einknickt. Die AfD könne mit ihren derzeitigen Umfrageergebnissen nicht für sich reklamieren, die Mehrheit in Deutschland zu vertreten. „Deutschland, das sind wir alle“, beendete Baerbock ihre Rede. Das Geschrei der Frau von der Tribüne ging im Applaus unter. Kurz nach 19 Uhr war die Veranstaltung beendet. 

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