
Naomi Beckwith, Künstlerische Leiterin der documenta 16, hat ihr kuratorisches Konzept vorgestellt. Viel schlauer sind die Kasseler und die Weltkunst-Rezipienten dadurch aber nicht.
Kassel – Die Künstlerische Leiterin der documenta 16, Naomi Beckwith, hat am Dienstag, 18. März 2025, in Kassel ihr kuratorisches Konzept vorgestellt. Die Präsentation sollte eigentlich im Gloria-Kino stattfinden. Angesichts des großen Publikumsinteresses verlegte die documenta und Museum Fridericianum gGmbH sie in die documenta-Halle. Gut 700 Interessierte waren der Einladung gefolgt.
Eine vollständige Videoaufzeichnung ist über den YouTube-Kanal ArtortTV meines befreundeten Filmemachers Stephan Haberzettl (Clipmedia) verfügbar. Ich habe bei der Kameraarbeit geholfen.
Code of Conduct macht Auftritt erforderlich
In der bundesdeutschen Medienöffentlichkeit wurde Beckwiths Auftritt bereits mannigfaltig kommentiert. Unhinterfragt blieb in vielen Berichten, warum sich Beckwith eigentlich der Öffentlichkeit erklären sollte. Freiwillig war ihr Auftritt ja keineswegs. Denn er ist Teil des Code of Conduct, der von offizieller Seite als Errungenschaft präsentiert wird, aus kuratorischer Sicht jedoch ein Ärgernis darstellt. Ruangrupa mussten sich ehedem nicht öffentlich ausfragen lassen zu einer Ausstellung, die erst zwei Jahre später stattfinden wird.
„Die jeweilige künstlerische Leitung der documenta Ausstellung soll innerhalb von drei Monaten nach ihrer Wahl in einer öffentlichen Veranstaltung ihr kuratorisches Konzept vorstellen, über ihre Haltung zu aktuellen Entwicklungen auf dem Gebiet zeitgenössischer Kunst informieren und darlegen, wie sie die Achtung der Menschenwürde unter Wahrung der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit auf der von ihr kuratierten Ausstellung gewährleisten will.“ – Code of Conduct documenta
Angesichts dieser Umstände war Beckwiths souveräner, aber zugleich vieles offen lassender Auftritt verständlich. Auf keine Stilrichtung oder Künstlerin wollte sie sich festlegen. Stattdessen referierte sie zu ihrem eigenen Hintergrund und den Einflüssen, die ihre kuratorische Praxis prägen.
Politik löst Verantwortung in Luft auf
Man muss Naomi Beckwith eigentlich danken, dass sie den Verantwortlichen nicht den Gefallen tat, eine Vorwegkritik zu ermöglichen und stattdessen mit vielen Worten das verschwieg, was eigentlich im Interesse der Öffentlichkeit war: Wie wird sie nun, die documenta 16?
Doch wozu dann dieser große Aufzug? Verantwortungsdiffusion könnte hier als Antwort für Politik und documenta gGmbH naheliegen. Die Verantwortung soll niemand mehr alleine tragen, man sichert sich prozessual ab.
Interessant war Beckwiths Ausführung für mich lediglich an einem Punkt (Sprungmarke 40:00 Videoaufzeichnung):
„For documenta 16 I will not tolerate denigration or presumptions about anyone or any group especially those based on national origin, cultural heritage, religious creed, sexual orientation, gender expression, financial status, physical abilities, family arrangements, sexual preferences or the sins of their fathers, their mothers or their sibling. I will welcome inclusivity and a culture of discourse, I even welcome debate and arguments but I will not condone physical, verbal or symbolic violence against others [applause].“
Das ist schon bemerkenswert. Beckwith gibt sich als Künstlerische Leiterin damit praktisch noch strengere Richtlinien als die Politik durch den Code of Conduct. Beziehungsweise liefert sie ihre eigene Interpretation, was sie unter Toleranz und Achtung menschlicher Würde versteht, wie sie der Code fordert. Zugespitzt könnte man auch von vorauseilendem Gehorsam sprechen.
Offenkundige Verunglimpfungen (denigrations) auszuschließen, ist sicherlich ein guter Vorsatz. Streit (debate and arguments) zuzulassen dagegen wohlfeil, schließlich gilt in Deutschland Meinungsfreiheit, was auch ein Code of Conduct nicht ändert.
Eine documenta ohne Konflikt?
Ich bin sehr gespannt, wie eine Ausstellung aussehen wird, die Konflikt als Element offenkundig eindämmen will. Bemerkenswert ist das zum einen angesichts einer Welt voller Kriege und Konflikte, zum anderen schafft ja gerade die neue Regierung in den USA genau diesen gegenseitigen Respekt ab, den Beckwith anscheinend in Europa noch für selbstverständlich durchsetzbar erachtet.
Meine Befürchtung, für die Beckwith jedoch allenfalls Anhaltspunkte geliefert hat: Ist eine Kritik am Kapitalismus als Gesellschaftssystem, in dem sich Ausbeuter und Ausgebeutete gegenüberstehen – gerade auch im Weltmaßstab – überhaupt noch möglich auf einer solchen documenta? Entschärft man den Ausgebeuteten nicht gerade die Waffen, die ihnen noch bleiben: Wort, Schrift und künstlerischer Ausdruck?
Im Hinblick auf die Historisierung und Musealisierung von sozialen Konflikten in den USA, für die Beckwith in ihrer Präsentation Beispiele lieferte, ist jedenfalls zu befürchten, dass hier ein Kunstbegriff favorisiert wird, der von vergangenen Communitys lebt, die keine Wirkmächtigkeit mehr haben, die Gesellschaft zu verändern.