Treffe ich am Sonntagabend um halb acht einen Somalier auf dem Königsplatz

phil botha 20VfF v0GZY unsplash
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Ob der junge Mann in Österreich gelandet ist? (Foto: Phil Botha/Unsplash)

Was wie der Anfang eines Witzes klingt, konfrontierte mich urplötzlich mit der Härte von Migration – und was meine Rolle dabei ist.

Es ist Sonntag, 3. November 2024, 19.20 Uhr. Ich warte am Königsplatz auf meine Straßenbahn, die mich in die Kasseler Nordstadt bringen soll, wo ich ein Konzert besuchen möchte. Plötzlich spricht mich von der Seite ein junger Mann an. Es ist ein Somalier, wie er selbst sagt. Er hat dunkle Haut, ist Ende 20 bis Mitte 30. Hagere Statur, helle Winterjacke und schlechte Zähne: Sir, do you speak English?

Er erzählt, dass sein Asylantrag zum dritten Mal abgelehnt wurde. Sein Anwalt habe ihm geraten, nach Österreich zu gehen, um es dort noch einmal zu versuchen. In Somalia, sagt er, würden ihm Leute mit dem Tod drohen. Wenn er jetzt von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben würde, wäre sein Leben in Gefahr und auch das seiner Familie. Er bittet mich um Hilfe.

Ich fühle mich betroffen und nehme ihm die Geschichte ab. Doch was kann ich tun? Ich überlege fast eine Minute und sage ihm dann, dass ich ihm höchstens mit ein wenig Geld helfen kann. Ich denke an 5 oder 10 Euro. In einer halben Stunde fängt das Konzert an und ich stehe jetzt auf einmal in der Verantwortung, ein Leben retten zu können. Verrückt – oder einfach nur gemein von ihm, mir so eine Geschichte aufzutischen.

Der junge Mann sagt, dass er noch heute Abend mit dem Zug nach Salzburg fahren will. 69 Euro für das Ticket, er würde sich sofort zum Bahnhof aufmachen. Nur über die Grenze müsse er kommen, das kriege er hin. Ich bin skeptisch. Verarscht er mich? Will er nur Geld? Er sagt, er hat kein Gepäck mit sich, nur die Klamotten an seinem Leib. Er schlafe seit Tagen auf der Straße – in der Nähe der Uni. 

Ich zücke mein Handy und google die Bahnverbindung von Kassel-Wilhelmshöhe nach Salzburg: 15 Stunden mit mindestens drei Umstiegen. Erst am kommenden Vormittag wäre er da.

Ich fühle mich unter Druck gesetzt. Ich biete aber aus dem Stegreif an, ihm 50 Euro zu geben, um sein Leben zu retten. 50 Euro seien gut, aber damit würde er nicht nach Salzburg kommen, sagt er. Mit 60 und den paar Euro, die er noch bei sich hat, würde er es wohl hinbekommen, den Schaffner zu überreden, ihm ein Ticket auszustellen.

Ich schaue in meine Geldbörse: 60 Euro sind darin in Scheinen. Nicht wenig Geld, aber für mich nicht die Welt – sofern ich denn wirklich sein Leben rette und nicht einem Gauner aufgesessen bin.

Ich gebe ihm nach etwas Zögern die 60 Euro und sage: Mehr ist da nicht, während ich ihm mein leeres Portemonnaie entgegenstrecke. Es fühlt sich nicht gut an. Ich fühle mich erpresst, blackmailed. Aber irgendwie fühle ich mich auch schuldig dafür, dass ihn meine Regierung den Mördern in seiner Heimat preisgeben könnte. 

Er lächelt leicht, als er das Geld einsteckt. Ich frage ihn: Why are you smiling? I hope, you are not shitting me. Er sagt, dass er nur dankbar ist, dass ich ihm helfe. Deshalb das Lächeln. Dann geben wir uns zweimal die Hand. Er hat einen weichen Händedruck. Er fragt nach meinem Namen: Paul, thank you very much! 

Dann geht er Richtung Haltestelle und unsere Blicke trennen sich. Ich fühle mich unwohl und beklommen. Auf der einen Seite bin ich vielleicht ein Gutmensch, auf der anderen auf einen Betrüger hereingefallen. So oder so um 60 Euro leichter. Und um diese Geschichte reicher. 

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