Wolfgang M. Schmitt in Kassel: Vortrag an der Universität

Das Buchcover von "Influencer - Die Ideologie der Werbeköper von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt (2021) im Hörsaal 3 des Campus-Center der Universität Kassel
Das Buchcover von "Influencer - Die Ideologie der Werbeköper von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt (2021) im Hörsaal 3 des Campus-Center der Universität Kassel
Der Hörsaal ist bis auf den letzten Sitz gefüllt: Dem Ideologiekritiker Wolfgang M. Schmitt hängen die Studierenden an den Lippen. (Foto: Paul Bröker)

Wolfgang M. Schmitt kommt nach Kassel – und der Hörsaal platzt aus allen Nähten. Der über diverse Internetformate bekannte Ideologiekritiker nimmt an der Uni die Influencer auseinander.

Wie wird man Influencer? Darauf will Ideologiekritiker Wolfgang M. Schmitt bei seinem Vortrag am 8. Februar 2023 an der Universität Kassel eigentlich keine Antwort geben. Gibt sie aber im Laufe des Abends dennoch: „Kontinuität und Disziplin sind alles.“

Kontinuität im Erscheinungsbild ist auch Schmitt selbst zu attestieren. Fein gekleidet und penibel frisiert fällt er aus dem Rahmen der Jogginghosen tragenden AStA-Leute, die sich im Hörsaal 3 des Campus-Centers zusammendrängen. Es ist brechend voll, aber das tut der gebannten Spannung keinen Abbruch.

Disziplin beweist Schmitt, als wäre er selbst ein Influencer, schon seit über zehn Jahren. In seiner Filmanalyse, einem YouTube-Kanal, durchleuchtet er jeden Sonntag aktuelle, aber auch klassische, Hollywood-Produktionen auf ihren Ideologiegehalt. Seit 2019 veröffentlicht Schmitt jeden Mittwoch mit Ole Nymoen zudem eine neue Folge des linken Wirtschaftspodcasts „Wohlstand für alle“. Mit Ole Nymoen hat er auch das Buch „Influencer – Die Ideologie der Werbekörper“ (2021) geschrieben. Darüber hinaus reflektiert er seit 2020 im Podcast „Neue Zwanziger“ mit dem Soziologen Stefan Schulz zum Abschluss eines Monats die Weltlage.

Wolfgang M. Schmitt: „Bin kein Influencer“

Doch Schmitt sieht sich selbst nicht als Influencer. Das verdeutlicht er schon zu Beginn in einer Fragerunde. Studierende aus dem Bachelorseminar „Die Politische Theorie der Tech-Elite“ von Maximilian Pichl wollen ihn in eine Falle locken – doch der entgeht Schmitt souverän. „Sind Sie etwa selbst ein Zweireiher, Haaröl und feinste Schnäpse bewerbender Influencer?“, fragen sie gewitzt. Natürlich gebe es Parallelen, antwortet Schmitt. „Ich bin wie die Influencer aus dem medialen Nichts gekommen.“ Zudem sei er auf denselben Plattformen aktiv. Einzig bei den Podcasts habe er sich durch den RSS-Feed von ihnen gelöst.

Doch Influencer – das sei er nicht. „Bei ihnen ist Werbung der eigentliche Inhalt“, führt Schmitt aus. Heute seien sie daher aus der Werbebranche nicht wegzudenken und konzentrierten insgesamt Milliardenbudgets auf sich oder gründeten gleich eigene Firmen, um Produkte mit ihrer Marke an die Kundschaft zu bringen.

Dass das Star-Sein früher mal etwas anderes bedeutet habe, macht Schmitt an der US-amerikanischen Schauspielerin Joan Crawford (1905–77) deutlich. Wie auch Marlene Dietrich (1901–92) habe sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgehalten und ihr Star-Sein als Nicht-nah-Sein zelebriert. Das Publikum gierte sodann danach, diesem Star nur einmal nahezukommen – eine anziehende Distanzierung. Diese Hollywood-Granden seien bigger than life gewesen.

Smartphones als Produktionsmittel

“If you want to see the girl next door, go next door”, soll Joan Crawford einmal einem Reporter geantwortet haben. Sie war das unantastbare Girl. Die heutigen Influencer spielten Wolfgang M. Schmitt zufolge dagegen mit der Suggestion, eben jener boy oder jenes girl next door zu sein. Quasi die beste Freundin auf dem Bildschirm – ganz nah und natürlich. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Influencer diese Nähe wohl wissend beabsichtigten. „Die Frage der Intention verbittet sich“, betont Schmitt.

Doch allein die Umschreibung des Influencer-Habitus macht für Schmitt noch keine Analyse. Erst die Produktionsmittel, bezogen auf die Theorie von Karl Marx (1818–83), hätten das Phänomen überhaupt ermöglicht. „Noch nie war so viel Produktionsqualität für so wenig Geld möglich.“ Nutzten die ersten Influencer noch ihre Webcams, um aus dem Jugendzimmer zu senden, benötigten sie für High-Definition-Videos heute nur noch Smartphones, die schon bald nach Vorstellung des iPhones im Jahr 2007 jedem für verhältnismäßig wenig Geld zur Verfügung standen.

Der eigentliche Clou sei jedoch die durch die Videoplattform YouTube ermöglichte Parallelität des Angebots. Allein eine Ausstrahlung von selbst produzierten Videos sei bereits durch Bürgersender wie die Offenen Kanäle möglich gewesen. Das Programm sei dort jedoch linear und auf ein regionales Fernsehpublikum beschränkt gewesen. Ab 2005 hieß der YouTube-Slogan dann „Broadcast yourself!“. Jeder hatte plötzlich Zugriff auf witzige Katzen-Clips. Eine theoretische Erreichbarkeit ohne Limits und Quoten-Druck.

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Maximilian Pichl (links im roten Pullover) hatte mit den Teilnehmern des Bachelorseminars „Die Politische Theorie der Tech-Elite“ zum Vortrag geladen.

Werbewirtschaft wird auf Teenager aufmerksam

Stattdessen habe das Publikum seine Favoriten selbst entdeckt, zunächst auch durch nicht allzu ausgefeilte Aggregatoren wie Myspace oder Empfehlungen per E-Mail. Und was war dort dann zu sehen? Teenagerinnen, die ihre Einkäufe aus Tüten zogen (hauls) und von ihren Kauferlebnissen berichteten. Was haben gelangweilte Mädchen auch sonst in einer Konsumgesellschaft zu erzählen? Bald hätten Schmitt zufolge Firmen den werbewirksamen Effekt dieser YouTuberinnen erkannt und ihnen die Produkte zum Aus- und Anprobieren zugeschickt. So sei das Influencer-Business entstanden.

Dass wir heute von Influencern sprechen, hätten wir dem US-amerikanischen Psychologen Robert Cialdini zu verdanken. In seinem Buch „Influence: The Psychology of Persuasion“ (1984) habe Cialdini beispielsweise die Effektivität einer einfachen Weihnachtpostkarte an den Kundenstamm hervorgehoben. Die Kunden fühlten sich daraufhin verpflichtet, den einfachen Gruß „I like you“ mit einem Kauf beim Händler zu erwidern. Man spricht von Reziprozität. Diese Theorie habe enormen Einfluss gehabt und sei über die Sozialen Medien ins Unermessliche skaliert geworden, wie Schmitt erläutert.

Die Influencer von heute schenken ihren Followern, so scheint es, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. „Sie reden wie du und ich und kommen aus derselben Welt wie du und ich“, fasst Schmitt zusammen. Nichts trennt die Lebenswelten an der Oberfläche. Hier scheine der disruptive Charakter der Sozialen Medien gegenüber der alten Medienwelt mit ihren Gatekeepern hervor. Die neuen Influencer wiederum würden dann auch für Traditionsmedien wie Die Zeit interessant, wie der Fall Rezo zeige, der eine Kolumne für eben jene Wochenzeitung geschrieben hat.

Illusion: „Du kannst es schaffen“

Die Influencer-Welt erzeuge die Illusion: „Du kannst es schaffen. Dazu musst du nicht mal reich sein und auch nicht über Vitamin B verfügen. Die einzig nötige Ressource bist du selbst.“ Dabei sei der Markt schon längst an die Platzhirsche verteilt. Was bei den YouTubern und Instagrammern der ersten und zweiten Generation noch erreichbar schien, ist inzwischen utopisch. „Der Markt ist geschlossen“, stellt Schmitt fest. Bei Tiktok habe es zuletzt durch den Algorithmus noch Ausreißer gegeben, doch im Grunde sei der Aufstieg zum Influencer heute nicht mehr möglich.

Dennoch, das hält Schmitt der neuen Medienwelt zugute, sei die Spitze derjenigen, die sie ernähre, breiter als noch in der alten elitären Showbiz-Welt. Experten zufolge könnten immerhin vier Prozent aller Nutzer vom Influencer-Sein leben. „Das ist schon eine ganze Menge“, findet Schmitt.

Trotz der faktischen Unerreichbarkeit sei die Sehnsucht nach dem sozialen Aufstieg ungebrochen. Dazu trage auch die generelle ökonomische Perspektive vieler junger Menschen bei, die wissen, dass es ihnen sehr wahrscheinlich nicht besser gehen wird als der Elterngeneration. Die Story vom Tellerwäscher, der es zum Millionär schafft, lebe zumindest auf YouTube, Instagram und Tiktok weiter.

Teenager über vier Stunden täglich auf den Plattformen

Und wie schafft man es? Indem man den Lebensstil derjenigen nachahmt, die es schon geschafft haben. Die heutigen Jugendlichen seien für die Botschaften („Du packst es auch!“) dadurch besonders empfänglich, da sie über vier Stunden täglich ihren Content in den Netzwerken konsumieren. Die Kinogänger der 1950er-Jahre dagegen kamen bei ein bis zwei Filmen in einer Woche auf weniger Medienkonsum als ein Teenager heute an einem Tag.

Beim Medienkonsum soll es freilich nicht bleiben. Der Kapitalismus fordert das Wachstum durch Produktion, die sich erst im Konsum vollendet. Doch dieses Wachstum sei schon seit 50 Jahren nicht mehr ungebrochen. In Trippelschritten ginge es immer noch ein bisschen nach vorn, doch die Zeit des Wirtschaftswunders, der Trente Glorieuses, sei schon längst vorbei. Stattdessen: Überkapazitäten. Deutschland sei nicht von irgendwoher jahrelang Exportweltmeister gewesen. Man selbst könne gar nicht so viel konsumieren, so Schmitt.

Der einzige Ausweg aus der Misere: die Werbung. Sie erklärt den Gebrauchswert der Güter und gibt Versprechen darüber ab, was die Güter bei den Konsumenten auslösen werden. „Der Körper des Influencers ist der Hauptaustragungsort“, erläutert Schmitt deren Rolle in dieser Vermarktungsstrategie. Sie hätten damit eine systemstabilisierende Funktion. Der Nutzen von neuartigen Gütern erschließe sich nämlich nicht von selbst. Die Influencer erklärten den Konsumenten, warum sie das, worauf sie von selbst nicht gekommen wären, tatsächlich brauchen.

Tiktok schaltet Werbung im Privatfernsehen

Mittlerweile schafften die Influencer es sogar, die Supermärkte mit ihren Produkten zu erobern. Ungeachtet des Aufpreises griffen immer mehr Konsumenten zu Eistee oder Müsliriegeln mit dem Konterfei bekannter Influencer. Dass bei den unter 30-Jährigen abseits von günstigen Lebensmitteln nicht viel zu holen ist, bemerken nun aber auch die Social-Media-Plattformen. Tiktok schaltet Werbung für die Zielgruppe Ü50 bei RTL, Sat.1 und Co. So differenziert sich das Publikum der Influencer immer weiter aus.

In jedem Segment, ob Kleidung, Technik, Beauty, gibt es nun Vorbilder, denen die einfachen User nacheifern können. Die Botschaft sei aber immer die gleiche: Jeder kann es schaffen – aber nicht alle, wie Schmitt schmunzelnd hinzufügt. Denn der Aufstieg der wenigen sei nur möglich, weil es die Mehrzahl nicht schaffe, aber weiter dem Traum anhänge.

Auch wenn wir uns dem Treiben der Influencer nicht aussetzten, seien wir dennoch alle auf gewisse Weise davon geprägt: Selfiesticks, tanzende Leute auf der Straße, scheinbar mit sich selbst redende Menschen, deren Kopfhörer nicht sichtbar sind – das alles gehört heute zur Normalität.

Skepsis gegenüber Vergesellschaftung

Das gesellschaftskritische und -verändernde Potenzial der Influencer schätzt Wolfgang M. Schmitt dagegen gering ein. „Würde es helfen, die Plattformen zu vergesellschaften?“, fragt jemand aus dem Publikum. Der sinnvolle Effekt sei fraglich, antwortet Schmitt, obwohl er nicht grundsätzlich dagegen sei. Wer das organisieren soll, sei jedoch unklar und es lauere die Gefahr, dass die Plattformen noch dysfunktionaler würden, als sie es schon seien.

Wer sich den Plattformen als Gegenmacht entgegenstellen könnte, lautet eine weitere Frage aus dem Publikum. Die Plattformen könnten auch abseits vom Influencer-Content zu einer anderen Form der Politisierung genutzt werden, so Schmitt. Aber für wirklichen Wandel in Richtung Wohlstand für alle müssten sich die Körper ihm zufolge im Raum treffen. Protest im Kollektiv und Austausch von Angesicht zu Angesicht seien unabdingbar. Das zeige ja auch der Austausch im Hörsaal.

Nachtrag: Das Campusradio Kassel hat einen Tonmitschnitt der Veranstaltung als Sendung und Podcast veröffentlicht.

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