
Spotify hat seine Nutzer auch diesmal wieder mit dem Jahresrückblick Wrapped überrascht. Ich schaue hier auf meine Top 3 Neuentdeckungen in anderen Medien: Serien, Filme, Dokus und auch Bücher.
Streaming
Past Forward (Hessischer Rundfunk, 2022)
Mit vielen Funk-Formaten hab ich so meine Probleme. Nicht nur ich. Tendenziös, undifferenziert und allzu klamaukig biedern sie sich an die angeblich anspruchslosen Jungen an. Die Öffentlich-Rechtlichen geben sich gleichzeitig aber durchaus Mühe, neue Erzählformate in den Mediatheken zu etablieren. Eines davon ist „Past Forward“ vom Hessischen Rundfunk.
In je 30 Minuten erzählen die Jungautoren die Hintergründe zu Mietenwahnsinn, Inflation, Kaltem Krieg oder auch Waldsterben. Was ich bei Funk-Formaten kritisiere, lobe ich hier: die persönliche Einordnung und Ansprache. Das macht die allgemein wichtigen Themen auch für junge Menschen interessant. In einer halben Stunde schaffen die Filme es, emotional ins Thema einzuführen und dennoch zwischen unterschiedlichen Standpunkte abzuwägen. Von der Dauer gehen sie über die von mir geschätzten Beiträge der ARD-Politmagazine hinaus und erinnern an die Story-Dokus, sind dabei jedoch nicht so verklemmt-ernst.
Die verwendeten Filmfetzen aus dem Archiv erschüttern zuweilen. Anscheinend wird seit Jahrzehnten immer das Gleiche diskutiert und doch ändert sich kaum was. Doch sie vermitteln auch, wie wir zum Heute gekommen sind. Damit sind die Archivaufnahmen kein Gimmick, sondern tragen zum Inhalt der Kurz-Dokus bei.
TraumaZone (BBC iPlayer, 2022)
Oft komme ich mir wie ein Insider vor, wenn ich von Adam Curtis erzähle. In Deutschland ist der britische Filmemacher, trotz seitenfüllendem Porträt in der Zeit, ein Unbekannter. Der heute 67-Jährige sitzt scheinbar unentwegt im gigantischen BBC-Archiv und bringt alle paar Jahre plötzlich und unvermittelt meisterhafte Dokumentationen heraus, die alle Dimensionen sprengen.
Ich muss zugeben, dass ich mittlerweile nicht mehr imstande bin, mir eine siebenstündige Doku am Stück anzusehen – weder zeitlich noch kapazitiv. Doch gerade das Binge-Watching auf einem großen Flachbildfernseher und guter Anlage kommt den Dokus von Curtis entgegen. Sie sind immersiv, verlieren sich in intimen Szenen des Alltags.
Bei „TraumaZone“ verzichtet Curtis nun auf den Einsatz seiner markanten Stimme („This is a story about …“). Stattdessen ist alles untertitelt. Der Fokus ist ganz auf den Bildern und der Atmo. Das ist mir zumindest beim ersten der sieben, je einstündigen Teile seiner Doku über die kollabierende Sowjetunion aufgefallen. Ich weiß nicht, ob sich dies im Laufe der Dokuserie ändert.
Wem diese Art Doku zu avantgardistisch ist, dem empfehle ich erst einmal, mit Curtis’ „The Century of the Self“ von 2002 zu beginnen. Dieser vierteilige Dokufilm, eine Folge dauert je eine Stunde, macht einem die moderne Konsumkultur verständlich.
Euphoria (HBO, 2019–heute)
I’m late to the game. Kurz nach dem Erscheinen der zweiten Staffel Anfang 2022 bin ich erst in „Euphoria“ eingestiegen. In Deutschland ist die Serie nicht allzu bekannt, da sie von HBO stammt. Dessen Serien laufen bei Wow, das früher Sky Ticket hieß. Für eine kurze Zeit habe ich mir dieses Abo gegönnt, das preislich mit Netflix, Amazon Prime Video, Disney+ und Co. mithalten kann, App-technisch jedoch ein Desaster ist.
Kurz zum Plot: Eine afroamerikanische Teenagerin hat mit ihrem Drogenkonsum und dem Erwachsenwerden zu kämpfen. Das war’s eigentlich schon. Grundsätzlich sieht man sich „Euphoria“ nicht wegen der allzu beliebigen Story an, sondern wegen der grandiosen Umsetzung. Die Serie gleicht einem wunderschönen Musikvideo. Die Musik stammt größtenteils vom britischen R&B-Sänger Labrinth, Rapper Drake hatte als Produzent seine Finger im Spiel und Zendaya überzeugt sowohl schauspielerisch als auch gesanglich.
Meinetwegen könnte die Serie ewig weitergehen. So traumhaft ist die Ästhetik. Gleichzeitig ist der Stoff der Serie außerordentlich beliebig. Wen die vermeintlichen Skandalthemen Sex, Drugs and Rock’n’Roll heute noch aufregen, der wird hier bedient, auch wenn die Handlung dadurch nicht spannender wird.
Filme
Wo in Paris die Sonne aufgeht (2021)
Jungen Leuten beim Leben zusehen: Das ist das, worum sich „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ von Jacques Audiard (2021) dreht. Und ich habe es im Kino genossen. Die Story ist, wie schon bei „Euphoria“, zweitrangig.
Die Musik des französischen Elektromusikers Rone treibt die Handlung voran, die schwarz-weißen Bilder von Kameramann Paul Guilhaume entführen in eine Welt, die während der Corona-Pandemie unendlich weit weg schien. Schwarz-weiß wird augenscheinlich wieder beliebt: Auch „Belfast“ von Kenneth Branagh (2021) und „Roma“ von Alfonso Cuarón (2018) haben sich dieses Stilmittels bedient. Ich liebe den kontrastreichen Look, der sich hoffentlich nicht abnutzt.
Unverständlich bleibt, warum dieses ästhetische Meisterwerk fürs Heimkino nur auf DVD in SD-Qualität erhältlich ist.
Licorice Pizza (2021)
Hier kann man sich treiben lassen. Am Ende ist man trotzdem noch im Kinositz oder im Sofa versunken. Die Reise mit ihren schönen Bildern und der unkonventionellen Liebesgeschichte zwischen einem 15-Jährigen und einer 25-Jährigen geht nicht so schnell davon.
„Licorice Pizza“ von Regisseur Paul Thomas Anderson lebt vom Vibe. Es ist der Vibe. Mit diesem Film startete für mich die Reise durch die Filme dieses Jahres. Fast 40 Filme habe ich konsumiert. Viele davon unverdaut wieder ausgespuckt. Bei einigen, wie diesem, ist trotz zeitlichem Abstand jedoch ein wohliges, helles und warmes Gefühl geblieben.
Wenn ich mich in Zukunft an 2022 erinnere, abseits von Krieg, Inflation und den letzten Corona-Auswirkungen, dann gucke ich „Licorice Pizza“, und weiß, dass vieles genauso schlimm schon einmal gewesen ist und dass es auch irgendwann einmal wieder besser wird. Deswegen geht man ins Kino: um sich verzaubern zu lassen und die Zeit weilend zu vergessen.
Everything Everywhere All At Once (2022)
Wem Marvel und Co. zu kommerziell sind, wen aber die Machart der Filme anzieht, der geht in „Everything Everywhere All At Once“ von Dan Kwan und Daniel Scheinert. Chaotische Kampfsequenzen treffen hier auf einen irritierenden Multiversum-Plot. Während beim ähnlich angelegten „Spiderman“ nur die Bombast-Optik und waghalsige Klippensprünge zählen, packen die Charaktere in diesem Film auch den Arthouse-Kinogänger an der Gurgel und lassen ihn erst los, wenn die Leinwand wieder schwarz ist.
„Was habe ich mir da eigentlich angesehen?“, fragt man sich perplex, wenn man im Tratsch mit Freunden aus dem Saal geht. Das ist nicht leicht zu sagen. Ich fürchte, ich werde das niemals sagen können, da ich mir den Film wohl nicht noch einmal ansehen werde. Aufreibend ist er und dadurch eigentlich nur ohne Vorahnung genießbar. Umso stärker wirft „Everything Everywhere All At Once“ damit aus dem schnöden Alltag.
Bücher
Patrick Kaczmarczyk: Kampf der Nationen (2022)
Wer von Wirtschaft keine Ahnung hat, der bekommt hier eine. Zumindest eine Vorahnung, dass vieles oberflächlich nicht so ist, wie es scheint. Die deutsche Autoindustrie? Gibt sich selbst Kredit und treibt so ihre Umsätze. Die deutsche Handelsbilanz? Schädlich für den europäischen Zusammenhalt.
Der junge Ökonom Patrick Kaczmarczyk schreibt lebendig, für viele wohl zu rasant. Auch als wirtschaftlich Vorgebildeter brauchte ich eine Weile, um viele der knallharten Fakten zu verdauen. Sind sie einmal aufgenommen, ist man desillusioniert und möchte am liebsten allen anderen davon erzählen. Dann wird einem klar: Wir sind alle Wirtschaftssubjekte, aber noch lang keine Ökonomen.
Das Buch macht einem die weitere Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen jedoch schmackhaft. Ich freue mich schon auf weitere Bücher und Aufsätze von Kaczmarczyk.
Robert Misik: Das große Beginnergefühl (2022)
Eintauchen, auf die Reise gehen, den Wurzeln unseres Weltgefühls nachgehen. Robert Misiks „Beginnergefühl“ ist wohl optimistisch gemeint, mich hat es dagegen melancholisch gemacht.
Den Aufbruch, den er für viele vergangenen Zeiten ausmacht? Den spüre ich nicht. Dennoch: Ganz verwerfen und für immer als Spinnerei unserer Ahnen abtun? Das würde seiner Schilderung nicht gerecht. Wir freuen uns auf etwas, das ganz unverhofft ja dennoch eintreten könnte.
Corona, Krieg und Inflation lassen einen zwar nicht hoffen, aber war nicht die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht auch eine der Unrast, der Bewegung in unterschiedliche Richtungen? Zu hoffen bleibt, dass nicht auch die heutige Moderne regressiv wird und ihre Kinder frisst. Doch erstmal müssten sich diese Kinder bemerkbar machen.
Stefan Schulz: Die Altenrepublik (2022)
Stefan Schulz gebührt, dass er uns heute, genau zur rechten Zeit, mit dem Thema der nächsten 20 Jahre vertraut macht.
Literarisch wertvoll ist das Sachbuch nicht, nicht mal angenehm zu lesen. Es ist jedoch vieles so klar und deutlich, dass es eigentlich keinen Spaß macht, eher einem grässlichen Horrorkabinett gleicht.
Man will sich darauf nicht einlassen, wird aber zwangsläufig die Wahrheit am eigenen Leib zu spüren bekommen. Schon bald dreht sich noch weniger um die Bedürfnisse der Jungen, die das Leben noch vor sich haben. Stattdessen müssen wir jenen ein würdevolles Ableben gestalten, die bereits alles hatten und nun mit der Welt gehen, die sie mit verunstaltet haben.
Ich frage mich: Kippt nicht irgendwann die Stimmung? Sind wir noch bereit, denen zu helfen, die uns das alles eingebrockt haben – Klimakatastrophe, unmenschliche Kriege, Armut? Ich hoffe, dass wir human bleiben und uns nicht rächen.