Wrapped: Was ich 2024 an Medien konsumiert habe

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Der Beweis: Ich habe mich 2024 tatsächlich noch physischen Medienträgern ausgesetzt. Die Inspiration durch den Algorithmus kam aber nicht zu kurz. (Foto: Paul Bröker)

Einer liebgewonnenen Tradition schließe ich mich an: Spotify überrascht seine Mitglieder jedes Jahr mit dem Jahresrückblick Wrapped. Ich schaue hier auf meine Top 3 Neuentdeckungen in anderen Medien: Filme, Bücher und Musik.

Filme

Challengers – Rivalen (2024)

Ästhetisch war „Challengers“ der wohl ansprechendste Film in diesem Jahr. Ein Ball, dem man aus der Ego-Perspektive mit der Kamera folgen kann und eine Sexiness, die knisternd ist, sich aber nicht in expliziten Szenen verliert. Die Story ist etwas vorhersehbar, aber durchaus spannend: Zwei Tennis-Dudes (Mike Faist und Josh O’Connor) – mal Freunde, mal Rivalen – kämpfen um die Gunst einer Tennis-Diva (Zendaya). Mir hat die Umsetzung des Stoffs gefallen. Sehr gelungen ist auch die musikalische Untermalung vom Produzentenduo Trent Reznor und Atticus Ross, von dem ich bis dato keine Notiz genommen hatte.

The Apprentice (2024)

Wer etwas über den neuen (alten) Präsidenten der USA erfahren möchte, ist bei „The Apprentice“ richtig. Donald Trump verbindet mit dem Begriff Apprentice (Lehrling) wohl eher die Realityshow, die ihn bekannt gemacht hat. Die Kinogänger verknüpfen mit dem Wort fortan Trumps Aufstieg zum reuelosen Immobilien-Hai, der vom Anwalt Roy Cohn die perfiden Tricks aufsaugt wie die Muttermilch. Auch wenn es naiv wäre, Trumps Aufstieg allein anhand der im Film wiedergegebenen Episode zu erklären, setzte sich bei mir doch zumindest ein Puzzle zusammen, das für große Teile der amerikanischen Gesellschaft zu gelten scheint: Wir leben im Jetzt. Was früher war, das interessiert heute nicht mehr. Und: Nur an die Gewinner erinnert man sich. Ich persönlich bin froh, dass wir in Deutschland eine Erinnerungskultur haben, sodass sich frühere Grausamkeiten hoffentlich nicht wiederholen. Damit will ich Trump nicht mit einem Massenmörder vergleichen. Aber auch manches widerwärtige Trump-Vergehen muss sich für meinen Geschmack nicht noch einmal zutragen.

All of Us Strangers (2023)

Wie können sich zwei Fremde näherkommen und schließlich sogar Intimität füreinander empfinden? „All of Us Strangers“ kann das nicht erklären. Der Film von Andrew Haigh ist ein Aufwurf: Was könnte sein, wenn wir uns von dem starren Alltag lösen und mal die Gedanken befreien? Der Plot ist außergewöhnlich, immer wieder tauchen Ebenen auf, die sich nicht mit der gewohnten Realität decken. Somit fordert der Film heraus, mitzudenken – gleichzeitig aber die Gefühlsseite nicht zu vernachlässigen. Einer der Top-Filme, die 2024 in die deutschen Kinos kamen, für mein Empfinden.

Bücher

Kyle Chayka: Filterworld – How Algorithms Flattened Culture (2024)

Es ist absurd, aber wahr: Auf Kyle Chaykas Sachbuch „Filterworld“ hat mich der Algorithmus gebracht. In einem YouTube-Video, in dem es um die Abkehr von Streaming ging (siehe unten), erwähnte der YouTuber Digging The Greats das Buch. Andernfalls wäre es wohl an mir vorbeigegangen. Das Thema bewegt sich nämlich nicht gerade in meiner Bubble. Meine Bubble, das war bis August die Welt von Instagram. Täglich verbrachte ich geschätzt moderate zwei Stunden auf der Meta-Plattform. Bis mir alles zu viel wurde. Ja, Social Media kann nützlich sein. Man bekommt gelegentlich Anregungen, die man in der Offline-Welt nicht bekäme. Tipps zu Haushalt, Medien und Hobbys. Aber man zahlt dafür einen Preis: die eigene Aufmerksamkeit. Sie leiert sich aus. Nichts mehr hat einen richtigen Wert, wenn nur zum Konsum angepriesen wird. Um Werbung geht es ja vorrangig auf Instagram. Ob Beauty, Technik oder Mode, aber auch Veranstaltungen und Gigs – immer geht es darum, Leute anzuziehen mit deren Geldbeutel. Nichts steht für sich, hat einen Selbstzweck. Dafür ist das Raster nicht geeignet. Für Kunst und Austausch auch weniger. Also Schluss damit. Wer Argumente gegen algorithmische Verblödung sucht, findet sie in „Filterworld“, das bislang nur auf Englisch erhältlich ist.

Jean-Philippe Kindler: Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf. Eine neue Kapitalismuskritik. (2023)

Wer sucht, der findet. Ich suchte eine Kapitalismuskritik in einer Sprache von heute. Nicht um den heißen Brei herumreden, sondern das Böse argumentativ bei der Wurzel packen. Verständlicherweise stieß die Ausdrucksweise, die Jean-Philippe Kindler in seinem Essay benutzt, bei meiner Mutter (Jahrgang 1954) auf keinen großen Wohlgefallen. Doch das ist beabsichtigt. Kindler schreibt für eine Generation, die sich lieber sich selbst zuwendet, um das Schweine-System zu vergessen, als es nach außen hin zu bekämpfen. Der junge Kabarettist liefert zunächst die Essenz des Marx’schen Denkens, um schließlich aktuelle Fehlentwicklungen anzuprangern. Wer keine Lust auf die zigste Abhandlung nach dem Motto „Das ist alles schlecht, also wählt verdammt noch mal links!“ hat, der findet anderswo angenehmeren Lesestoff. Wer sich jedoch darauf einlässt, findet in „Scheiß auf Selflove, gib mir Klassenkampf“ eine ermutigende Lektüre.

Roger de Weck: Das Prinzip Trotzdem – Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen (2024)

Journalismus ist der schönste Beruf, wäre da nicht dessen Krise. So gesehen kommt Roger de Wecks Sachbuch „Das Prinzip Trotzdem“ zum rechten Zeitpunkt. Die klassischen Medien werden immer irrelevanter, verlieren Auflage, erschließen keine neuen Zielgruppen im Digitalen. Die Verlegerverbände haben darauf nur irrwitzige Antworten: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei schuld. Wenn ARD und ZDF keine bunten Kacheln mehr bei Instagram und keine Texte mehr auf ihren Portalen veröffentlichen dürfen, dann werde schon alles gut. Pustekuchen. Nichts wird gut. Dies benennt Roger de Weck bravourös, wie man es leider von hiesigen Chefredakteuren und Verlagsbossen selten hört. Denn der eigentliche Totengräber von Axel Springer, Burda, Funke und Co. ist nicht der ÖRR, sondern es sind die Internet- und Social-Media-Konzerne. Alphabet (Google) und Meta (Facebook, Instagram, WhatsApp) haben schon seit zwei Jahrzehnten den Werbemarkt völlig zerstört. Wenn von der publizistischen Kraft der deutschsprachigen Medien noch etwas übrigbleiben soll, dann müssen sie sich laut de Weck auf ihre Kernkompetenz konzentrieren: seriösen, wertvollen Journalismus. Für mich das Buch der Stunde.

Musik

Justice: Hyperdrama (2024)

Es war einmal ein Einschlag: Justice. Mit einer seiner ersten Singles, „D.A.N.C.E.“, definierte das Pariser Duo neu, was Elektro-Musik bedeutet. In Werbeclips war das Stück zu hören, auch ich wurde Ende der 2000er-Jahre auf die beiden DJs Gaspard Augé und Xavier de Rosnay aufmerksam. Ein eigenes stimmungsvolles Video unterlegte ich mit „Genesis“ vom Album „Cross“. Doch im Grunde war mir die Musik fremd. Ich hörte sie auf meinen PC-Lautsprechern, tanzte gehemmt durch mein Jugendzimmer, isoliert, eher melancholisch als ekstatisch. Was elektronische Musik bedeutet, erfuhr ich so richtig erst Ende meiner 20er-Jahre in den Kasseler Techno-Klubs. Da wurde nicht mehr Justice gespielt, sondern ein absurd schneller Techno à la Brutalismus 3000. Aber das Grundkonzept ist weiter hörbar, wie auch das melodisch-schöne Album „Hyperdrama“ beweist, das im Frühjahr erschien. Die Single „One Night/All Night“ kündigte im Dauerplay bei Deutschlandfunk Nova dessen Release an. Beim Auftritt am 14. Dezember 2024 in der Max-Schmeling-Halle in Berlin werde ich Justice das erste Mal live hören. So wie es sich für elektronische Musik gebührt: ekstatisch, mit abreißenden Bässen und schneidenden Höhen. Yeah!

Antilopengang: Alles muss repariert werden (2024)

Die Antilopengang bringt auf den Punkt, was angesichts von nicht endendem Ukraine-Krieg, einem Preisniveau, das Lohnsteigerungen nicht aufgeholt haben, und dem eingerissenen 1,5-Grad-Ziel so vielen durch den Kopf spukt: „Alles muss repariert werden.“ Aber es gelingt natürlich nicht. Da hilft nichts außer Melancholie oder hoffnungsloser Optimismus. Letzterer wird durch eine wütende Punk-B-Seite ausgedrückt. Eins kann man den Antilopen nicht absprechen: ihre Haltung. Mit „Oktober in Europa“ texteten sie wohl das politischste Lied in diesem Jahr. Es ist zu bewundern, dass sich die Antilopengang – im Gegensatz zu vielen anderen bekannten Künstlern – so kompromisslos zur Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung bekennt.

Kapa Tult: Es schmeckt nicht (2023)

Manchmal fördert der Spotify-Algorithmus Sonderbares zutage: die Band Kapa Tult zum Beispiel. Ich schenkte der Band zunächst nicht viel Beachtung, fand ihre Texte aber einfallsreich und verspielt. Erst als dann im Kasseler Schlachthof für den 3. November 2024 plötzlich Kapa Tult angekündigt wurde, erinnerte ich mich wieder und tippte den Bandnamen abermals in die Suchleiste. Und siehe da: die drei Frauen und ein Mann machen richtig wilde Musik, wie auch das 2023 erschienene Album „Es schmeckt nicht“ darlegt. So richtig festlegen wollen sie sich selbst nicht. Allein die Texte kann man klar als feministisch einordnen – mit vielen Alltagsbeobachtungen. Beim Klang kommen Von Wegen Lisbeth und ein bisschen auch Blond in Erinnerung. Keine schlechte Grundlage. Energetisch geladen war auch der Schlachthof-Auftritt – aber mehr als greller Punk.

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