Vlogging 2022: Ist das heute noch zeitgemäß?

pexels los muertos crew 7261084
Vlogging: Eine Kamera mit einem Mikrofon nimmt eine Frau in einem weißen Oberteil auf, die in die Kamera spricht.
Vlogging 2022: YouTuber quatschen fast täglich in ihre Kameras. Doch was bewegen sie damit am Ende? Geht es nur um Profit und persönlichen Aderlass? (Foto: Los Muertos Crew von Pexels)

Nichts im Leben fehlt dem Menschen so sehr wie andere Menschen. Auch mir geht’s nicht anders. Bringt uns Vlogging 2022 diesbezüglich die Lösung?

Vor drei Jahren habe ich für mich selbst gevloggt, 30 bis 40 Tage lang, ohne die Videos auf YouTube hochzuladen. Dabei lernte ich wenig. Mit Abstand war der Erkenntnisgewinn dagegen phänomenal. Ich konnte sehen, wie sich meine Denke weiterentwickelt hat.

Doch würde sie sich nicht wesentlich schneller entwickeln, wenn ich meine Ansichten mit anderen teilen würde? Würde mir jemand zustimmen – selbst in der kleinsten Randgruppe?

Das Videoformat regt die Empathie an. Damit ist es dem reinen Audio überlegen. Die Zuseher können sich mit den Schwächen und der Hässlichkeit desjenigen, der sich ihnen offenbart, auseinandersetzen. Er ist auch nur ein Mensch, er hat ein Doppelkinn, einen hässlichen Bart und eine Brille mit dicken Gläsern. 

Vlogging zum Gedanken-Austausch: Videos bieten einige Vorteile

Das Videoformat böte einige Vorteile, da die Angriffsfläche umso größer ist. „Du bist ein Hässling, du hast doch keine Ahnung.“ Doch das ist ja nicht mein Ziel. Ich will mit Leuten ins Gespräch kommen.

Sollten die Zuschauer zu meinen Videos Gegenreden veröffentlichen? Reactions? Und soll ich dann wiederum Belehrvideos aufnehmen? Nach dem Motto: Das hat der und der gesagt, deswegen ist es gut. Bemängelt Franz Jung in seiner Autobiografie nicht gerade genau dies? Dass die Wortführer mit Büchern herumwedeln: das ist richtig, das ist falsch?

Vlogging: Es bleibt keine Zeit für Alleinunterhalter

Es ist wichtiger, Sachen zu lassen, als sie zu machen. Bei der Atomkraft hat es endlich den gesellschaftlichen Diskurs gegeben: Wir lassen das jetzt. Vor zwei Tagen sind drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen. Das ist ein Erfolg der Bewegung. Doch die Bewegung, aus der auch die Grünen entstanden, begann schon Mitte der 1970er-Jahre. Das ist mehr als 40 Jahre her. 

Wir haben beim Klimawandel und anderen Sprengladungen nicht noch einmal 40 Jahre Zeit, um sie zu entschärfen. Wir sind an dem Punkt, wo bloß noch vier oder fünf Jahre bleiben, um unsere Energieversorgung umzustellen und die Konsumzwänge abzulegen, die die Klimagase weiter anwachsen lassen.

Vlogging: Die Kommodifizierung des Gedanken-Austauschs

Welche Rolle spiele ich dabei, wenn ich solche Gedanken auf Video aufnehme? 

Ich lade sie bei YouTube, Tiktok oder Instagram hoch und am Ende bewirke ich – nichts. Ich baue mir eine Community auf, die von mir verlangt, Videos, Audios, Bilder und so weiter hochzuladen. Dabei kommodifiziere ich mich bloß selbst.

Das lässt mich wundern, warum wir bei Twitter noch so aktiv sind. Evgeny Morozov hat doch eigentlich schon alles dagegen geschrieben vor zehn Jahren. Trotzdem bin auch ich dort aktiv. Selbst Morozov ist auf Twitter aktiv.

Dabei ändert sich dadurch – nichts. Stattdessen haben wir zehn Jahre verloren. Occupy Wallstreet war die letzte Bewegung, die versuchte, den Kapitalismus anzugreifen. Seitdem ist nichts passiert. Die neue Bewegung von Yanis Varoufakis, DiEM25, schmort in der Bedeutungslosigkeit. 

Steht Vlogging der Revolution im Wege?

Das wird so bleiben, solange nicht die breite Bevölkerungsmehrheit aufbegehrt. Das hieße nicht, dass die Menschen zu den Waffen greifen, sondern sich gemeinsam zur Wehr setzen – im eigenen Interesse. Eine friedliche Revolution, in der klar ist: Wir wollen so nicht weitermachen. Der Druck von der Straße muss von selbst entstehen, nicht aufgezwungen von politischen Agitatoren. 

Es bräuchte einen Generalstreik, wie er in den 1920er-Jahren gängige Praxis war. Doch selbst damals haben sich viele gesperrt gegen diesen Protest. Aus Angst, ihren Job zu verlieren. Viele hatten auch kein Interesse daran, aus dem Nest herausgeworfen zu werden, das sie sich mit den kapitalistischen Errungenschaften eingerichtet hatten. Die bürgerliche Existenz der Arbeiter zehrte das revolutionäre Potenzial auf.

Einfach mal den Kopf entleeren: Die egoistische Seite des Vloggings

Vlogging böte – ganz egoistisch gesehen – die Möglichkeit, meinen Kopf zu leeren. Allzu oft fehlen mir in meiner Nähe die Gesprächspartner. Mein Kopf gleicht einem Schwamm, der sich aufgesogen hat und nichts mehr aufnehmen kann. 

Gleichzeitig möchte ich niemanden belehren. Dieser Versuch wäre allzu plump. Es gliche Scharlatanerie, einen Fremden von einer Sache überzeugen zu wollen. Angriffe provozieren Verteidigung. Das Resultat ist die Abwehrhaltung. Denn niemand lässt sich gerne belehren. Erst recht nicht von jemandem, der sich des Besseren nicht sicher ist.

Lernen könnte ich von meinem ehemaligen Professor Heinz Bude, einem Soziologen. Er widersetzte sich dem gängigen medialen Vorlesungsformat und trug stattdessen Erzählungen vor. Es lag dann an uns Studenten, ob wir uns dieser Erzählung anschließen oder gegen sie aufbegehren wollten. Die Prägnanz der Erzählung ließ jedoch keine Ignoranz zu. Jeder konnte sich positionieren und fühlte sich am Ende schlauer – durch die Reibung an der Geschichte.

Wie steht’s um die Gesellschaft? Sinnsuche via Vlogging

An und für sich kann jeder Mensch über sich diese Bude-Geschichten erzählen: Weshalb stehe ich gerade in meinem Leben an diesem Punkt? Daraufhin fällt jedem eine Sinnsuche ein, die er erzählend vermitteln kann – und die ihm sodann auch niemand ohne weitere Kenntnis absprechen vermag.

Das Besondere an diesen Geschichten ist offenkundig: Sie beinhalten immer auch die Deutung, was andere Menschen – seien es medial vermittelte Personen oder Nahestehende – von der momentanen Situation halten. Ohne Reibung ist keine persönliche Wahrheitsfindung möglich. Ohne Maßstab kein Maß.

Auch ich habe mir diese Bude-Geschichten schon vor dem Studium erzählt. Sie waren düster und traurig. Ich glaubte, Deutschland und insgesamt die Welt befände sich auf dem absteigenden Ast. Überall nur Klimakatastrophe und Armut. Dabei beging ich den Fehler, mein eigenes Seelenleben als Grundlage für die gesellschaftliche Konstitution zu nehmen. Mir ging’s schlecht, allen anderen folglich auch nicht viel besser.

Vlogging gegen das „Schweinesystem“: Alles nur Einbildung?

Dabei geht es der Mehrheit in Deutschland offenkundig gut. Rein materiell gesehen mangelt es den meisten an wenig oder gar nichts. Das zeigen Umfragen. 

Soll ich nun meine eigene revolutionäre Energie („Nieder mit dem Schweinesystem!“) als imaginär deuten? Muss ich mich mehr mit anderen Sichtweisen auseinandersetzen? Unbedingt! Austausch ist das Beste, was mir passieren kann.

Gleichzeitig negiere ich jedoch, dass meine Intuition – „Da ist was im Argen!“ – bloße Einbildung ist. Selbst wenn es uns in Deutschland – noch – gut geht, so könnte es allen schon heute besser gehen. Auch das zeigen Umfragen. Altersarmut und Prekarität sind real.

Werde ich dank Vlogging 2022 zum Polit-Influencer? Lieber nicht!

Es bleibt unbefriedigend. Die Frage, ob Vlogging oder nicht, kann nicht abschließend geklärt werden. Dafür spricht die Entleerung, die wegen ihrer Ungerichtetheit Angriffe ermöglicht – und somit Diskurs. Auf der anderen Seite spielte ich sodann im Konzert der Polit-Infuencer mit, die zwar nichts Materielles verkaufen wollen, doch dafür umso mehr den Zuschauern an den Fersen kleben, um ihnen ihre Weltsicht aufzuzwingen.

Der Beschluss: vertagt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert