
Ist es normal, süchtig zu sein? Wenn man sich anschaut, wie Social Media genutzt wird, dann kann man dies bejahen. Ich wollte da nicht mehr mitspielen. Doch die Abstinenz fällt schwer.
Was ist normal? Das, was die Mehrheit gut findet und täglich in ihrem Verhalten bestätigt. Guckt man sich die Generationen Y und Z an, ist es eine Binsenweisheit, dass jeder ein Smartphone hat und Social-Media-Apps nutzt. Das ist normal. Das ist, was nicht zur Diskussion steht, weil es offenkundig ist. Dieses Leben mit iPhone oder Android-Smartphone und modernen Social-Media-Apps führen spätestens seit 2016, als Instagram die Storys einführte, die meisten jungen Menschen.
Aufstehen mit dem Smartphone-Wecker. Erstmal die Notifications von WhatsApp und Instagram checken. Ein paar News durchscrollen. Auf dem Weg zur Arbeit mit den Airpods die eigene Spotify-Playlist hören. Alle paar Minuten das Handy wegen der Uhrzeit und Neuigkeiten checken. Nicht ohne Smartphone auf die Toilette gehen können. Die Swipe- und Scroll-Reflexe sind automatisiert.
Nach der Arbeit locken YouTube, Netflix, Tinder, Games. Das ganze Leben ist durch Apps strukturiert. Bei den Jüngeren kommt TikTok dazu. Bei Älteren Facebook und LinkedIn.
Doch es ist kein erfülltes Leben. Es ist suchtartig. Verhalten, das anfangs spannend und faszinierend wirkte, ist nun angelernt und lässt sich nicht mehr ablegen.
Vor Kurzem habe ich für mich den Entschluss gefasst: Ich lösche alle sozialen Netzwerke bis auf Facebook, das ich beruflich nutzen muss, und YouTube. Nicht nur die Apps, sondern auch die Konten. Spotify habe ich gleich mitgelöscht.
Was ist die Folge? YouTube nutze ich dank neu abgeschlossenem Premium-Abo umso häufiger. Statt Instagram ist jetzt die „Spiegel“-App mein Suchtmittel. Doch ich verweile kürzer und lasse mich weniger treiben. Das Handy lege ich rascher beiseite.
Mein Kopf hat sich entspannt. Mir kommt es vor, als träumte ich intensiver. Ich bin weniger gehetzt. Nach einem Monat habe ich nicht mehr das Gefühl, auf den Plattformen etwas zu verpassen.
Die Befürchtung, dass Events an mir vorbeigehen, ist nicht eingetreten. Die Infos gibt es auch über eine Google-Suche. Dafür braucht es die Plattformen nicht.
Dabei war die erste Woche Abstinenz unangenehm. Ständig spürte ich den Drang, mein Handy aus der Hosentasche zu ziehen, es flink zu entsperren und durch meinen Feed zu scrollen.
Mich betrübt, dass ich bislang keine Ersatzbeschäftigungen gefunden habe, die absolut medienfremd sind. Statt pausenlos auf Instagram zu sein, sehe ich jetzt häufiger fern. Im Auto höre ich vermehrt Inforadio. Auf dem Handy dominieren nun die Apps von „Spiegel“ und „FAZ“ die Screen-Time.
Nach wie vor entsperre ich gelegentlich aus Reflex mein Handy. Doch dann fühle ich mich verloren. Auf meinem Homescreen finde ich keine App mehr, die reizvoll ist. Aus Verdruss schaue ich mir dann häufig alte Fotos an. Dadurch erfahre ich: Das Handy hat mich im Griff und meine Gedanken sind von einer Welt bestimmt, an die ich mich jahrelang gewöhnt habe und die sich ebenso jahrelang an mich angepasst hat.
Instagram gab mir immer wieder Schübe eines angenehmen Rauschs. Zwar dominierte meist die Angespanntheit, etwas verpassen zu können. Circa in einem von 20 Fällen gab es dann aber doch den gewünschten Kick. Es fühlt sich an wie Rauchen. Der Zug an der Zigarette ist die Befreiung aus der Anspannung, die sich immer wieder aufbaut, wenn das Nikotin im Körper abnimmt. Es braucht immer wieder Schübe. Social-Media-Abstinenz ist ein ebenso starker Kampf gegen eine Sucht.
Dabei ist es nicht mit dem Entzug getan. Es braucht alternative Verhaltensweisen und Beschäftigungen, die das angelernte Verhalten ersetzen oder kompensieren.
Es ist krass, wenn ich nun auf den Anfang dieses Essays zurückkomme. Dieses Verhalten, ständig Apps wie TikTok und Instagram zu checken, betrifft mindestens eine ganze Generation. Mindestens 80 Prozent aller ihr zugehörigen Menschen verhalten sich so. Es ist normal, süchtig zu sein. Es wird von Politik und Medien kaum Anstoß daran genommen.
Doch ist es ist die Zeit gekommen, dieses Verhalten zu hinterfragen. Es lähmt die Vorstellungskraft der Gesellschaft, macht aus aktiven Bürgern in der Mehrzahl passive Konsumenten werblicher Inhalte. Die Fantasie, die Gesellschaft und mit ihr die Welt gestalten zu können, muss ein Comeback feiern.
Ein erster persönlicher Schritt ist es, die eigenen Konten zu löschen. Das ist ein Anfang, sein Gehirn wieder zu öffnen für die echte Welt und eine Normalität zurückzuerlangen, die im Grunde immer da war. Zunächst wird diese Normalität trist erscheinen. Doch umso schöner ist es, zu merken, was man dadurch hinzugewinnt: seine uneingeschränkte Fähigkeit, frei zu denken.