Eines vorweg: Niemand sollte die Tabletten gegen eine Bipolare Störung ohne Rücksprache mit einem Arzt absetzen. Dennoch ist die Versuchung groß, sich des Phasenprophylaktikums zu entledigen. Was geht im Kopf eines Lithium-Patienten vor sich?
Zur Einordnung: Ich hab diesen Text im November 2020 geschrieben. Damals fühlte ich mich ausgeliefert – durch meine Bipolare Störung. Sie wurde kurz nach dem Abitur diagnostiziert. Da war ich 20.
Angesichts von Übergewicht und Schwermut hegen mich gelegentlich Zweifel, ob die Medikamente nötig sind. Gleichzeitig weiß ich, dass ich ohne die Lithium-Tabletten nicht so viel erreicht hätte.
Dafür nehme ich in Kauf, auch Phasen erleben zu müssen, die mir weder Freude noch Trauer entlocken. Doch die anfängliche Befürchtung, gar nichts mehr zu spüren, ist nicht eingetreten.
Bipolare Störung: Trotz Tabletten Freude und Melancholie
Mein Hirn hat sich an das Lithium gewöhnt und ich spüre innerhalb des Kanals, den das Lithium zulässt, Freude und melancholische Momente. Früher war alles intensiver – jedoch nur um den Preis der Krankheitsphasen, verbunden mit Psychosen und dem Fixierbett als letztem Notnagel.
Ich rate niemandem, die Tabletten ohne Rücksprache mit einem Arzt abzusetzen, auch wenn die Versuchung groß ist.
Im Folgenden der Ursprungstext, der einen Einblick in mein Seelenleben gibt.
Bipolar: So fühlt sich ein Manisch-Depressiver
Ich rede bedeutungsschwere Worte. Sie sind hohl, ich verstehe sie nicht. Doch ich fühle mich, als würde ich auf einem schnellen Pferd reiten oder mit vielen Pferdestärken die Landstraße unsicher machen. Es fühlt sich großartig an und ich verdränge, dass der Abgrund nur auf mich wartet.
Dennoch fühle ich mich belanglos. Das Schicksal Milliarden anderer Menschen erscheint bedeutsamer als meins. Doch kleinreden möchte ich mich nicht. Ist etwas manischer Appetit auf die Welt nicht gesund?
Ich habe keine Ahnung mehr von diesem Leben, habe mich aus der Öffentlichkeit entfernt, ohne Handhabe über die Mächte, die mein Leben insgeheim doch bestimmen.
Bipolare Störung: Das Lithium dämpft die Empfindungen
Ich halte fest: Ich bin krank, bipolar. Merke heute aber nur das Gegenteil dieser Erkrankung, denn das Lithium dämpft meine Empfindungen.
Das Leben wird zum Kalkül, Überraschungen ausgeschlossen. Alles ist geplant, ohne Hoffnung auf Erheiterung oder Trauer. Mittig wie die Bundesregierung vergehen die Jahre ohne Ekstase, ohne Spaß.
Aber ich lebe und das ist doch die Hauptsache. Keine Gedanken an Abgründe, nur graues Fortbestehen.
Tabletten gegen die Bipolare Störung absetzen? Das Risiko ist groß
Kann es so weitergehen? Soll ich meine Ausbildung noch abschließen und dann endlich leben?
Soll ich mir die Krankheit gönnen? Noch ist schließlich alles gesichert. Aber auf das Glück gibt es kein Patent!
Die Konsequenz wäre eine Welle, die mich fortträgt, mich wieder freibuddelt. Ich gefährde mich, doch ohne Risiko keine Erfüllung. Soll ich mir alles kaputtmachen?
Bipolare Störung: Mit Glück geht es glimpflich aus
Nichts ist garantiert, doch die Zerstörung der Kontrolle scheint gesichert.
Vielleicht geht es auch glimpflich aus und ich kontrolliere meine Auswüchse. Vielleicht endet es aber auch ganz mies und ich werde zum Pflegefall. Welches Risiko möchte ich eingehen?
Das Ziel der Therapie ist Stabilität, bestimmt der Therapeut. Doch er gibt mir Tabletten, nimmt mein Blut ab und fragt mich bloß nach meinem Befinden. Solange ich keine Nebenwirkungen habe, ist alles gesichert: die Abwesenheit der Symptome und die Integration in die Gesellschaft. Ich passe. Und ich passe auf. Auf mich.
Alles grau und fahl: Die Tabletten trüben die Sinne
Aber ob der Kontrolle verliere ich die Fähigkeit zu leiden, zu weinen, zu jubeln. Alles erscheint grau und fahl. Langgehegte Hobbys liegen brach. Selbst die Träume sind nur noch selten bunt und aufreibend.
Aber es geht nicht. Ich muss da durch. Alles ausprobieren, was das Leben hoffnungsvoll macht. Was die Trägheit vergessen lässt.
Gelegentlich keimt Hoffnung. Nicht alles ist verloren. Trotz Lithium gute Laune, trotz dickem Bauch Ausdauer. Aber die große Zahl der Tage bleibt bleiern.
Bipolare Störung: Leben um den Preis des Genusses
Ist das die Wirklichkeit? Ich fürchte schon. Wenn ich mir mein Leben nicht zerstören möchte, darf ich es nicht kosten. Das ist der Preis der Bipolaren Störung.
Es ist wie der Apfel im Paradies, vom Baum der Erkenntnis. Ich hätte zwar meinen Spaß, aber nicht von Dauer.
Ob es mir ohne Tabletten wirklich besser gehen würde, kann niemand beantworten. Und ich traue mich nicht, es auszuprobieren. Der jetzige Zustand ist besser als Isolierzimmer und Fixierbett – allemal.
Epilog: Die Hoffnung ist immer da
Ich habe diesen Text liegengelassen, nicht veröffentlicht. Ich habe Angst, mir damit zu schaden. Meine Zukunft zu verbauen. Letztlich hängt es aber vom Mut ab, sich selbst zu zeigen, wie man ist, wer man ist.
Nur ein paar Monate später habe ich meine Medikation – in Absprache mit meinem Arzt – verändert. Nur eine halbe Tablette weniger. Nur ein Bruch mitten durch die weiße Kapsel. Es ist eine Offenbarung: Seitdem sind die Träume wieder bunt. Das heißt nicht, dass ich nicht weiter kämpfe. Aber es ist erträglicher.
Also: Kostet das Leben, aber saugt euch nicht eure Kraft aus Hirn und Adern. Vernunft heißt nicht, dass man sich ewig das Leben versperrt, sondern bewusst wird, was es heißt zu leben. Das ist auch mit Bipolarer Störung drin.
Leidest du selbst unter dieser Erkrankung oder kennst jemanden, der eine Bipolare Störung hat? Informations- und Hilfsangebote findest du unter dgbs.de.